Ahnen
Das Leben unserer Ahnen beeinflusst uns in vielfältiger Weise: genetisch, epigenetisch, durch mündlich weitererzählte Ereignisse und auch durch die Anzahl der heute lebenden Verwandten.
Jeder Mensch ist gefangen in seiner Zeit und seinen Lebensumständen und versucht mit größtmöglicher Intelligenz, das Beste daraus zu machen.
Um diese Ahnengeschichten schreiben zu können, habe ich über Jahre hinweg immer wieder tagelang in öffentlichen Archiven und unserem Familienarchiv recherchiert, handschriftliche Geburtsregister durchforstet, stundenlang Tonbänder mit Erzählungen abgehört. Dabei habe ich viele Kinder gefunden, die geboren wurden, starben und vergessen wurden.
Bitte lesen Sie die folgenden Geschichten meiner Ahnen in Ruhe und mit Respekt und Achtung. Keine dieser Personen war es zu ihren Lebzeiten gewohnt, im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit zu stehen.
Hulda 1918
Hulda ist 39 Jahre alt, als sie am 15.4.1918 im Übergangslager Baranawitschy - auf der Rückfahrt von Saratow nach Warschau - ihr 14. Kind zur Welt bringt. Allein inmitten von hunderten fremden Menschen, neben ihr ihre acht noch lebenden älteren Kinder. Als deutschstämmige Siedler in Kongress-Polen, einer russischen Provinz, hatten sie vor drei Jahren - zu Beginn des Ersten Weltkrieges - ihre Heimat Stanislawow nördlich von Warschau in Richtung Sibirien verlassen müssen.
Glücklicherweise waren sie schon in Saratow an der Wolga aus dem Zug gestiegen und hatten dort drei Jahre lang gelebt und gearbeitet. Wären sie noch weitergefahren, wären sie wahrscheinlich niemals zurückgekehrt. Nun, nach der russischen Revolution und dem Frieden von Brest-Litowsk, dürfen sie zurück in ihre Heimat, die inzwischen von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzt wurde. Wird der polnische Hofverwalter ihnen ihren Hof und ihr Land zurückgeben? Ja, das tut er. Die Ernte dieses Jahres wird gerecht geteilt.
Meine Urgroßmutter.
Christine Sophie 1791
Die Hochzeit bleibt Christine Sophie nicht erspart, sosehr sie sich auch dagegen sträubt. Sie hat miterlebt, wie ihre ältere Schwester Juliane mit 15 Jahren schwanger wurde und drei Monate vor der Geburt ihres Kindes einen ihr unbekannten Pastor heiraten musste. Christine Sophie möchte nicht heiraten, schon gar nicht ihren leiblichen Onkel, der seit Jahren darauf wartet, dass sie Ja sagt. Doch nun muss sie. Ein ihr unbekannter schwerhöriger Pastor hat ihren Vater – Pastor Ludwig Berger - um Erlaubnis gefragt.
Ihre Mutter, eine Pastorentochter, duldet kein Nein. Pastorentöchter dürfen nicht unverheiratet bleiben. Christine Sophie ist 22 Jahre alt, als ihr eigener Vater sie am 3.3.1791 zwangs-verheiratet. Mitten in Deutschland, im Fürstentum Schaumburg-Lippe. Es ist eine Doppelhochzeit: Ihr Onkel heiratet am selben Tag in derselben Kirche eine andere Frau. Christine Sophies Ehemann Georg Christoph Friedrich Gieseler stammt wie ihre Mutter Eleonore Lodemann aus einer Pastoren-Dynastie. Sie wird zehn Kinder gebären, 47 Ehejahre erleben und 84 Jahre alt werden. Heute hat sie mehr als 2.000 lebende Nachkommen.
Meine Ur-ur-ur-urgroßmutter.
Martin 1872
Martin ist verzweifelt. Seine dritte Ehefrau Karoline ist gestorben. Die erste Ehefrau hieß auch Karoline, die zweite Emilie. Was soll nun werden? Wird er noch eine vierte Frau finden, die den Hof mit ihm führt? Allein schafft er es nicht. Die Arbeit auf dem Hof ist hart. Jede Ehefrau hat ihm einen Sohn hinterlassen, die drei Söhne sind 15, sieben und zwei Jahre alt.
Ist es eine Strafe Gottes, dass ihm schon die dritte Frau gestorben ist? Welcher gottesfürchtige Mann wird ihm jetzt noch seine Tochter als Ehefrau anvertrauen? Martin heiratet ein viertes Mal: Rosalie. Alles geht gut. Fünf weitere Kinder werden geboren, alle acht Kinder werden konfirmiert und der Hof in Majdan nordöstlich von Warschau wird weitervererbt.
Mein Ur-urgroßvater.
Rudolf 1939
Er weiß, dass sie kommen werden. Rudolf steht am Fenster des Schulhauses und raucht nervös eine Zigarette nach der anderen, hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Dorfbewohner haben ihn gewarnt. Nein, er möchte sich nicht drei Tage im Wald verstecken, bis die Deutschen hier an der Weichsel angekommen sind.
Rudolf ist polnischer Staatsbeamter, Lehrer der Dorfschule. Er hat einen Eid auf den polnischen Staat geschworen. Warum sollten sie ihn verhaften, nur weil er deutsche Wurzeln hat? Rudolf hat dem polnischen Staat, der 1921 gegründet wurde, viel zu verdanken: Auf dem Lehrerseminar in Dzialdowo (Soldau) hat er eine gute Ausbildung erhalten und konnte so als einziger von insgesamt sieben Brüdern dem harten Leben auf dem Bauernhof entkommen. Es wird schon nicht so schlimm werden.
Dann kommen sie. Seine fünfjährige Tochter Gertrud versteckt sich im Betsaal, der an den Schulraum angrenzt. Seine Frau Hulda schreit laut. Als die Soldaten ihr drohen, auch sie und die Tochter mitzunehmen, verstummt sie. Es ist der 3.9.1939, Tag 3 des Krieges.
Rudolf ist nur neun Tage weg. Wird von Włocławek (Leslau) aus auf den Todesmarsch zum Lager Bereza Kartuska geschickt. Weil er durch seine Brille als Gebildeter erkennbar ist, wird er von einem polnischen Soldaten als Gesprächspartner ausgewählt und darf sich zurückfallen lassen. Das rettet ihm das Leben. Doch als er zurück zu seiner Familie kommt, ist er blass und wirkt abwesend. In der Nacht weint er laut.
Mein Großvater.
Otto 1942
Otto denkt nicht mehr nach. Jetzt ist er hier, jetzt muss er auch weiter: im Sturmboot über den Don. Es ist der 21.8.1942, Otto ist Gruppenführer der Infanterie. Sein Vater hat auch im Krieg gekämpft und im Mai 1916 in Weißrussland durch einen Granatensplitter sein Leben verloren, als Otto erst vier Jahre alt war. Nur eine vage Erinnerung hat er an seinen Vater in seiner schicken Uniform.
Otto denkt nicht mehr an Algebra, an Kurvendiskussion oder Theateraufführungen in der Privatschule, die er geleitet hat. Das rationale Denken, das er sein Leben lang so geliebt hat, ist in den kalten Winternächten in Slowjansk verloren gegangen. Er denkt nicht an den Sinn des Zieles, Stalingrad zu erobern. Jetzt muss er nur weiter voran. Er wird überleben. Nach dem Krieg wird er in seine Heimat Hamburg zurückkehren und wieder als Lehrer arbeiten.
Mein Großvater.
Margarete 1739
Margarete ist Apothekerin. Durch und durch. Ist in der Apotheke in Stadthagen aufgewachsen, die ihr Urgroßvater Philipp Mercklin gegründet hat. Kennt alle Rezepturen. Doch nun lebt sie in Bückeburg und hat Sorgen: Ihr Ehemann, der studierte Arzt und Apotheker Christian Philipp Berger, hält sich nicht an die Regeln gesunder Ernährung, sondern isst und trinkt hemmungslos. 38 Jahre ist er alt, hat soeben sein drittes Buch veröffentlicht - mit einem Vorwort von dem berühmten Naturphilosophen und Aufklärer Christian Wolff – doch es geht ihm schlecht, ein Gichtanfall jagt den nächsten. Er legt sich mit dem Stadtrat an, verkauft seine Apotheke, arbeitet nur noch als Arzt. Margarete sucht Rat bei dem jungen zweiten Pastor der Stadtkirche, Daniel Ernst Knefel.
Am 11.11.1739 stirbt ihr Mann an einem Gichtanfall. Sie wird mit 35 Jahren Witwe, hat zwei kleine Söhne zu versorgen – ein und vier Jahre alt, vier Töchter und ein Sohn sind bereits gestorben. Doch sie gibt nicht auf. Heiratet 36-jährig den 29-jährigen Pastor, der vier Jahre später Oberprediger der Stadtkirche, Konsistorialrat und Superintendent wird. Sie gebiert drei weitere Kinder und lebt 26 Jahre lang in dem Pfarrhaus, das heute nach dem direkten Nachfolger ihres Ehemannes benannt ist: Johann Gottfried Herder. Sie lebt in Gottvertrauen nach den Regeln des Pietismus und wird 74 Jahre alt. Drei ihrer Söhne werden studieren.
Meine Ur-ur-ur-ur-ur-urgroßmutter.
Amalie 1831
Amalie hilft gern, als sie gefragt wird: Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, ist im Oktober 1831 kurz nach der Geburt ihres zehnten Kindes gestorben. Ihr Onkel braucht Hilfe bei der Versorgung eines Neugeborenen, vier Kleinkindern und fünf Schulkindern, von denen das älteste Mädchen bereits 13 Jahre alt ist. Amalie ist selbst erst 21 und freut sich über die Ablenkung und das Leben im Haus ihres Onkels, des Professors für Kirchengeschichte Dr. Johann Carl Ludwig Gieseler, in der Barfüßerstraße in Göttingen.
Denn Amalie hat großen Kummer: ihr Verlobter ist neulich kurz vor der geplanten Hochzeit plötzlich verstorben. Amalie hilft - und bleibt. Heiratet ihren 18 Jahre älteren Onkel und gebiert 13 Kinder. Selbstverständlich als Hausgeburten. In das Acchouchierhaus der medizinischen Fakultät der Universität – die erste Geburtsklinik Deutschlands - gehen nur unverheiratete junge Frauen: die Sterblichkeit der Frauen und Babys ist dort extrem hoch. Alle ihre 13 Kinder und zehn Stiefkinder erreichen das Erwachsenenalter. Amalie stirbt am 18.6.1886 in Neudietendorf im Alter von 76 Jahren.
Meine Ur-ur-urgroßmutter.
Was haben wir heute für Sorgen?
Zu viel Arbeit?
Nicht genügend finanzielle Hilfen vom Staat?
Wir führen ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmtheit und materiellem Luxus: Wir alle.
Wir sollten dankbarer sein für unser Leben.
Danke Hulda, Christine Sophie, Martin, Rudolf, Otto, Margarete, Amalie und all ihr anderen Ahnen, dass ihr überlebt habt und euch um eure Kinder gekümmert habt! Sonst würde es mich heute nicht geben!
Danke für eure Stärke, die auch ich in mir trage.
Eure Beatrice
- Schule der Weisheit, Symbolik & Kreativität -
Beatrice von Singen